Chemnitz: Fraunhofer-Forscher geben Werkzeugmaschinen einen Tastsinn
Millionen feiner Rezeptoren pro Quadratzentimeter Haut machen diese zum perfekten Sensor. Ständig nimmt sie Informationen über die Oberflächenbeschaffenheit, die Temperatur oder den Druck auf und befähigt uns damit zu filigranen Arbeiten. Wissenschaftlern des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU ist es jetzt gelungen, auch spanenden Werkzeugmaschinen einen Tastsinn zu verleihen, um sie effizienter und genauer arbeiten zu lassen. Ihre Innovation - das taktile Werkzeug "SensoTool".
Der Tastsinn ist für den Menschen überlebensnotwendig. Er ermöglicht es ihm, mit seiner Umgebung gezielt zu interagieren. »Ähnlich komplex wie die Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt ist die Wechselwirkung moderner Hochleistungsprozesse mit Werkzeugmaschinen«, sagt André Bucht, Abteilungsleiter Adaptronik am Fraunhofer IWU. »Auf einen Tastsinn mussten Werkzeugmaschinen bislang verzichten. Mit SensoTool ändern wir das.«
Prozesskräfte messen, wo sie auftreten
"SensoTool" erfasst Temperaturen und Kräfte dort, wo sie auftreten und erlaubt auf diese Weise eine direkte Prozessüberwachung und -anpassung. »Kern des Systems ist ein Sensorelement mit piezoelektrischen Schichten, das direkt hinter der Wendeschneidplatte am Werkzeugträger positioniert ist«, so André Bucht. Die zu messende Kraft wird in eine Ladung gewandelt, die eine integrierte Elektronik anschließend vorverarbeitet. Die gewonnenen Daten überträgt das Werkzeug drahtlos an die Maschine. Somit ermöglicht das Sensorelement die prozessnahe Messung hochdynamischer Kräfte von wenigen Newton bis zu drei Kilonewton. Auf diese Weise kann SensoTool die aktuell wirkenden Schnittkräfte, die Temperatur an der Werkzeugschneide aber auch Schwingungen des rotierenden Werkzeugs nahe der Wirkstelle erfassen.
Paradigmenwechsel in der Prozessüberwachung
»Bisher war es nicht möglich, Kenngrößen von Zerspanungsprozessen direkt im Prozess mit ausreichender Qualität und Quantität zu erfassen«, erklärt André Bucht. In der Zerspanung dominieren zur Prozessüberwachung bisher sensorlose Systeme. Die Kennwertermittlung erfolgt dabei nicht direkt in den kritischen Belastungszonen des Werkzeugs. Vielmehr werden Messgrößen wie das Drehmoment von Spindel und Vorschubachsen ausgewertet. Dadurch lassen sich oft nur sehr schwerwiegende Ereignisse wie ein Werkzeugbruch detektieren. Eine Echtzeit-Nachregelung des Prozesses ist nicht möglich. Sensorische Lösungen kommen wegen hoher Kosten und eines großen Integrationsaufwands bisher lediglich in Laboren zum Einsatz.
»Piezokeramische Schichtsysteme direkt auf rotierenden Werkzeugen bedeuten hier einen Paradigmenwechsel«, ist André Bucht überzeugt. »Denn mit SensoTool können wir komplexe Prozessgrößen nahe der Wirkstelle erfassen und drahtlos an eine übergeordnete Steuerung übergeben. So entstehen intelligente Produktionsanlagen, die auf kleinste Abweichungen zielsicher reagieren. Dadurch ist eine stabile und optimale Prozessführung für eine energie- und ressourceneffiziente Fertigung gewährleistet.«
Notwendig sind solche Prozessanpassungen aufgrund immer höherer Anforderungen an Qualität und Produktivität moderner Fertigungssysteme. Zudem kommen immer öfter schwer zerspanbare Werkstoffe wie Kohlefaserverbunde oder Titan zum Einsatz. Eine sichere Fertigung erfordert deshalb zunehmend eine sehr exakte Einstellung aller relevanten Parameter. Schon geringe Abweichungen führen zum Verlassen des stabilen Prozessfensters. SensoTool erkennt diese Abweichungen frühzeitig, und die Maschine passt sich den veränderten Bedingungen an.
Die Arbeiten wurden im Rahmen des Projektes »SensoTool – Werkzeugintegrierte Sensorik zur Prozessüberwachung in der Zerspanung« (FKZ: 03ZZ1007) durchgeführt. SensoTool ist ein Teilprojekt des Konsortiums »smart³ | materials – solutions – growth«, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung innerhalb des Programms »Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation« gefördert wird.